Stadt oder Land?


Dorf-Experte sieht bessere Chancen für Dorf-Kinder

"Es ist erwiesen, dass Kinder auf dem Land hinsichtlich ihres Bildungsstandes besser abschneiden als Kinder in den Großstädten" - diese interessante These vertritt "Dorfforscher"Gerhard Henkel im Südwestpresse-Interview in der Serie "Landlust - Landfrust".

Quelle: Südwestpresse

Landleben als Forschungsgebiet Gerhard Henkel, emeritierter Professor an der Universität Duisburg-Essen, ist Humangeograph. Er befasst sich seit 45 Jahren mit der Entwicklung des ländlichen Raumes und gilt in Deutschland als "Dorfpapst". Der Westfale Henkel hat mehrere Standardwerke zum Dorfleben verfasst. Sein jüngstes Buch "Das Dorf - Landleben in Deutschland gestern und heute" ist 2011 im Stuttgarter Theiss-Verlag erschienen. 344 Seiten, 49,95 Euro.

Herr Professor Henkel, gibt es eine Renaissance des Landlebens, eine Stadtflucht?
GERHARD HENKEL: Von Stadtflucht zu reden, wäre übertrieben. Aber es gibt eine neue Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land. Untrügliches Zeichen dafür sind Zeitschriften wie "Landlust" oder "Liebes Land", von denen es etwa 20 gibt, wovon manche über eine Million Auflage haben.
Was versprechen sich die Leute vom Landleben?

HENKEL: Natur, einen eigenen Garten, Entschleunigung, Ruhe, Überschaubarkeit und eine soziale Gemeinschaft, in der man sich kennt und aufgehoben fühlt, in der Traditionen und Rituale gepflegt werden.

Woher rührt diese Sehnsucht?

HENKEL: Vom Trend zur Vereinzelung und ständigen Mobilität, von der Schnelligkeit des Wandels und der wachsenden Unübersichtlichkeit. Die Menschen sind immer in Bewegung und oft nirgends richtig zu Hause. Da sehnt man sich nach einem überschaubaren Raum und einer vertrauten menschlichen Umgebung.

Entspricht diese Wunschvorstellung der dörflichen Wirklichkeit?
HENKEL: Ja, im Großen und Ganzen. Die Dorfbewohner sind mit ihrem Wohnumfeld trotz mancher Schwächen in der Infrastruktur weit überwiegend sehr zufrieden, laut Umfragen ist diese Zufriedenheit in der Regel deutlich höher als bei Großstadtbewohnern.
Gibt es auch Dörfer mit weniger zufriedenen Menschen?

HENKEL: Gewiss. In abgelegenen Gebieten, wo viele Gebäude leerstehen und der letzte Laden und Gasthof geschlossen ist. Oder im Speckgürtel der Großstädte, wo manche Dörfer im Lauf der vergangenen Jahrzehnte ihre Bevölkerungszahl vervielfacht haben. Sie sind zu schnell gewachsen und haben dabei ihre dörflichen Strukturen und ihre Identität verloren, sind zu "Zwischenstädten" geworden. Die Leute, die dort hingezogen sind, haben weniger das dörfliche Leben gesucht, sondern billigen Wohnraum.

Kann zu viel Zuzug dem Dorfleben schaden?

HENKEL: Das muss generell nicht sein. Es gab immer wieder große Zuzugswellen. Nach dem Krieg waren es die Flüchtlinge und Vertriebenen, denen seitens der Dorfbewohner allerdings ein hohes Misstrauen bis hin zur Ablehnung entgegenschlug. Doch langfristig gelang die Integration über Vereine und Kirchengemeinden. Und die Nachfahren der Zuwanderer gehören längst zum Dorf. Ähnlich positiv verlief es vor ungefähr 25 Jahren mit den Spätaussiedlern. Da bestand plötzlich ein Drittel unseres Dorfes aus Russlanddeutschen. Doch die anfängliche Skepsis hat sich gelegt. Nach meiner Auffassung war ihr Zuzug ein Segen für das Dorf.

Wie sieht es mit dem Integrationswillen der Stadtflüchter aus?

HENKEL: Unterschiedlich. Diejenigen, welche die dörfliche Gemeinschaft schätzen, wirken im Dorfleben mit, gehen in die Vereine. Dann gibt es freilich auch wieder diejenigen, die nur ihre Ruhe haben wollen. Die beschweren sich dann in Leserbriefen über Güllefuhren und über läutende Kirchenglocken.

Was sagt die Statistik über die Wanderungsbewegungen zwischen Stadt und Land?

HENKEL: Der größere Trend geht immer noch vom Dorf weg in die Stadt. Meist sind es junge Leute. Sie verlassen das Dorf wegen der Ausbildung und der Möglichkeiten, eine attraktive Anstellung zu bekommen - auch wenn es in vielen ländlichen Gebieten blühende mittelständische Unternehmen gibt. Neben diesem größeren Trend gibt es aber zwei kleinere von der Stadt aufs Land. Das sind einerseits ältere Menschen am Ende ihres Arbeitslebens, die oft auch vom Land stammen. Und andererseits vor allem junge Familien mit Kindern, wobei das häufig Besserverdienende und Akademiker sind.

Tun denn Eltern mit dem Umzug aufs Land ihren Kindern einen Gefallen?

HENKEL: In aller Regel ja. Denn neben den auf der Hand liegenden Vorteilen wie Natur, Ruhe und behütete Umgebung gibt es in vielen ländlichen Gebieten eine hervorragende Infrastruktur, auch was Erziehung und Bildung betrifft. So ist erwiesen, dass Kinder auf dem Land hinsichtlich ihres Bildungsstandes besser abschneiden als Kinder in den Großstädten. Sie stehen insgesamt besser da: materiell, gesundheitlich und psychisch.

Psychisch?

HENKEL: Ja. Der ländliche Lebensstil ist geprägt durch Anpacken, durch Arbeit, oft in Gemeinschaft, durch Helfen, Geben und Nehmen. Das stärkt auch die Psyche. So dürfte es kein Zufall sein, dass die Chefs der größten deutschen Wirtschaftsunternehmen mehrheitlich in ländlichen Regionen aufgewachsen sind. Dieses Phänomen wird damit erklärt, dass auf dem Land verstärkt soziale und emotionale Kompetenz erworben wird und dort noch ein anderes Arbeitsethos herrscht.

Wirkt sich der Trend zum Landleben auf das Selbstbewusstsein der Dorfbewohner aus?

HENKEL: Gewiss. Früher war der Begriff "Landei" ja noch ein Schimpfwort. Diese Zeiten sind vorbei. Die Dorfjugend, die früher nichts wie raus wollte aus dem Dorf, geht aus den genannten Gründen zwar noch immer, aber mit hoher Bereitschaft, zurückzukehren. Denn das heutige Dorf ist trotz aller sozialen Kontrolle nicht mehr so eng wie einst. Es ist liberal und offen. Auch Dorfbewohner sind heute global aktiv.


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